ADHS: Was es ist und wie man es behandelt

Kinder, die unkonzentriert sind, ständig in Bewegung, stark impulsiv: Symptome des ADHS. Wer das Internet danach befragt, bekommt unzählige Antworten, zum Teil ziemlich erschreckend. Daran ist aber oft wenig Wahres. Hier sind die wichtigsten Facts vom Facharzt.

Was ist ADHS?

Die Abkürzung ADHS steht für „Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom“. Kennzeichnend für Kinder mit dieser Störung ist, dass

  • sie sich schlecht konzentrieren können,
  • nur kurze Zeit aufmerksam einer Sache folgen (vor allem in komplexeren Situationen wie der Schule, oder bei schwierigeren Aufgaben wie den Hausaufgaben)
  • leicht ablenkbar sind und deshalb Arbeiten nicht in derselben Zeit fertigstellen wie andere Kinder (Klassenarbeiten werden nicht geschafft, Hausaufgaben dauern lange)
  • oft (aber nicht immer) einen sehr hohen Bewegungsdrang haben, zappeln, wackeln, sogar in unpassenden Momenten aufstehen
  • oft (aber nicht immer) impulsiv sind, nicht warten können, immer alles SOFORT haben müssen und übermäßig viel reden

Für manche Kinder und Jugendliche treffen die Kriterien der Hyperaktivität, also des hohen Bewegungsdranges, und der Impulsivität, nicht zu – hier verwendet man die Abkürzung „ADS“. In letzter Zeit ist es mehr und mehr üblich, für ALLE Störungen dieser Art die Abkürzung ADS zu verwenden, zur Unterscheidung kann man dann sagen „ADS ohne Hyperaktivität“ oder „ADS mit Hyperaktivität“.

ADHS ist eine biologisch begründete Erkrankung. Ursache sind Störungen der Neurotransmitter, also der chemischen Botenstoffe, mit denen unsere Gehirnzellen kommunizieren, vor allem Dopamin und Noradrenalin. Sie sind dafür zuständig, Informationsprozesse zu steuern, wie die Verkehrsschilder an einer Hauptstraße. Wenn sie zu schwach funktionieren, fließt zu viel Verkehr von den Seitenstraßen in die Hauptstraße, oder Fahrzeuge biegen zu häufig aus der Hauptstraße in die Nebenstraßen ab, weil sie den Weg nicht genau finden. So geht es im Gehirn eines ADHS-Patienten mit Informationen. Statt gebündelt, zielgerichtet und störungsfrei zu fließen, werden sie durch weniger wichtige Informationen gestört oder gehen „unterwegs verloren“. So ist es mit Gedanken und strukturiertem Arbeiten, und so ist es mit körperlichem Bewegungsdrang.

Einem ADHS-Patienten geht es mit Bewegung oder Gedankenfluss, wie einem Fahrradfahrer, der mit hoher Geschwindigkeit bergab fährt. Vor der nächsten Kurve möchte er bremsen, aber die Bremsen sind zu schwach eingestellt – womöglich regnet es noch. Das Kommando „Bremsen!“ kommt also, man möchte es auch beachten, aber es funktioniert nicht richtig, es „greift nicht“. So beschreiben es Kinder mit ADHS sehr oft: „Ich möchte ja aufpassen, aber es geht nicht“.

Wir wissen heute, dass 75% der Ursache für ADHS in unseren Genen liegt, also keineswegs Folge einer „schlechten Erziehung“ ist, und natürlich erst recht keine „Erfindung der Pharmaindustrie“, wie die Medien das oft unreflektiert darstellen. Das bedeutet, oft tritt die Störung familiär gehäuft auf. Ich erlebe auch tatsächlich oft in meiner Praxis, dass Eltern meiner Patienten von sich ähnliche Symptome beschreiben, wie ihr Kind sie hat.

Wie wird ADHS diagnostiziert?

Zur Diagnose von ADS gibt es leider keinen „Test“, sondern der Arzt macht sich ein ausführliches Bild aus den Schilderungen der Eltern und der Untersuchung des Kindes. Er gibt Fragebögen an Eltern, Lehrer und ggf. Therapeuten (Ergotherapie, Logopädie, falls vorhanden) aus, in denen der Ausprägungsgrad der Störung eingeschätzt werden soll. Er sieht alle Schulzeugnisse durch, da in den ersten Textabschnitten der Zeugnisse die ADS-Symptome aus Sicht der Lehrer oft genau beschrieben werden. Er liest die ggf. vorhandenen Therapieberichte (z.B. Ergotherapie, wo oft auch gezielt auf Konzentration geachtet wird). Auch wird immer eine Testuntersuchung der Intelligenz und manchmal auch der Teilleistungen (Lesen, Schreiben, Rechnen – falls nötig) vorgenommen, um isolierte Defizite in diesen Bereichen auszuschließen.

Die Diagnose entsteht dann aus einer Gesamteinschätzung aller verfügbaren Informationen. Dabei müssen drei Merkmale beachtet werden:

  1. Die Störung besteht meist schon seit dem Kindergarten, ist aber in jedem Fall nicht erst „plötzlich“ aufgetreten. ADS „kriegt“ man nicht.
  2. Die Störung tritt meist in mehreren Lebensbereichen auf (Schule, Familie, Freundeskreis). ADS liegt also nicht nur im Kontakt des Kindes z.B. zu einer Lehrerin, sonst aber bei niemand anderem vor.
  3. Die Symptome führen zu einer Beeinträchtigung des Kindes: in der Schule kann es nicht die Leistungen erbringen, zu denen es eigentlich imstande wäre; in der Familie gibt es immer wieder Reibereien und „Genervtheit“, die das Familienklima beeinträchtigen; im Freundeskreis kommt es oft zu Streitereien und Ausgeschlossenwerden

Wichtig ist, daß all diese Dinge nicht bei allen Kindern genau gleich vorkommen. Deshalb ist eine ausführliche ärztliche Untersuchung ausgesprochen wichtig. Eltern haben manchmal den „Verdacht auf ein ADS“, kennen aus dem Bekanntenkreis aber Kinder, die „das auch haben und viel schlimmer sind“, und folgern daraus, dass das bei ihrem Kind also nicht vorliegen kann. So stimmt es aber nicht – besonders der dritte genannte Punkt (die Beeinträchtigung) – muss für jedes Kind individuell überprüft werden.

Wie wird ADHS behandelt?

Für die Behandlung von ADS gibt es im Wesentlichen drei Therapiebausteine, wir nennen das eine multimodale Behandlung:

  1. Training der Eltern: Besonders die Eltern eines ADS-betroffenen Kindes müssen lernen, ihr Kind in den Herausforderungen der Störung zu unterstützen: Hilfe beim Strukturieren geben (ohne die Arbeit abzunehmen), klare, einfache Anweisungen geben, das Kind motivieren und ggf. mit Hilfe von Belohnungssystemen und Punkteplänen schrittweise daran arbeiten, daß erwünschtes Verhalten (z.B. sorgfältig und zügig arbeiten) verstärkt wird. Bei Bedarf werden Eltern in Gruppen und auch einzeln darin geschult, diese Methoden anzuwenden.
  2. Training mit dem Kind: Das Kind kann lernen, sich länger zu konzentrieren und sich dabei besser zu strukturieren: Übersicht über die Aufgabe gewinnen und sie Schritt für Schritt abarbeiten, am Ende das Ergebnis kontrollieren. Das lässt sich in Praxen mit „Konzentrationstraining“ schaffen, oft bieten auch spezialisierte Ergotherapiepraxen entsprechende Trainings an. Die Effekte sind aber leider immer auch begrenzt – man darf keine Wunder erwarten, und oft berichten sogar die zuständigen Therapeuten, dass die Lerneffekte aufgrund der Konzentrationsprobleme oder der Unruhe nur gering sind.
  3. Medikamentöse Behandlung: Die medikamentöse Behandlung des ADS wird meist zu Unrecht negativ gesehen. Viele Kinder kommen mit den genannten Punkten 1 und 2 gut aus und benötigen keine Medikation, tatsächlich werden nach aktuellen Statistiken weniger als die Hälfte aller ADHS-diagnostizierten Patienten in Deutschland medikamentös behandelt. Wenn aber die nicht-medikamentösen Behandlungen über ein halbes Jahr ohne nennenswerten Erfolg verlaufen oder schon gravierende Folgen des problematischen Verhaltens drohen (z.B., weil ein Kind aus der Schule verwiesen werden soll), ist eine Medikation ein sinnvoller und in den meisten Fällen auch sehr wirksamer Therapiebaustein.Grund dafür, dass wir eine Störung der Aufmerksamkeit und des Verhaltens überhaupt medikamentös behandeln können ist, dass die Ursache für die gesamte ADHS-Problematik in einem Stoffwechselungleichgewicht des Gehirns liegt. Die körpereigenen Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin sind an bestimmten Kontaktstellen (Synapsen) des Nervensystems in zu geringer Menge vorhanden und können durch ein geeignetes Medikament auf ein normales Niveau gehoben werden. Das ist keine Vermutung, sondern seit vielen Jahrzehnten in hunderten von wissenschaftlichen Studien weltweit belegt. Tatsächlich ist von allen Therapiemöglichkeiten die medikamentöse Therapie die mit Abstand wirksamste. Dabei wird, beginnend mit geringen Dosierungen, beobachtet, wann bei einem Kind eine Wirkung auftritt, möglichst ohne dass Nebenwirkungen feststellbar sind. Im optimalen Fall kann sich ein Kind nach erfolgter Einstellung über den Schulvormittag hinweg und auch bei den Hausaufgaben konzentrieren, sein Leistungspotential endlich ausschöpfen, ausreichend lange zuhören, seine Hyperaktivität und Impulsivität auf ein normales Maß reduzieren und somit ein entspanntes und zufriedenes Leben leben. Bei der Mehrheit der Kinder tritt diese Folge auch genau ein. Falls eine ausreichende Wirkung ausbleibt oder die Nebenwirkungen (z.B. Appetitminderung, Schlafstörungen) überwiegen, ist die Behandlung für das Kind nicht gut geeignet und muss selbstverständlich geändert werden. Auch deshalb sollte die Behandlung ausschließlich durch einen Facharzt erfolgen, damit durch häufige Kontrollen sichergestellt werden kann, dass das Kind von der Behandlung auch wirklich profitiert.

    Als erster und häufigster Wirkstoff wird Methylphendat eingesetzt (Medikinet, Ritalin, Equasym, Concerta). Es ist seit ca. 60 Jahren auf dem Markt und zählt zu den bestuntersuchten und sichersten Medikamenten.

Irrtümer über die Behandlung mit Medikamenten

Es ist falsch, dass Kinder durch die Behandlung „nur ruhiggestellt“ werden sollen. Vielmehr soll ihre störungsbedingt hohe Ablenkbarkeit und Hyperaktivität auf ein normales Maß gebracht werden, damit sie ihre Möglichkeiten ausschöpfen können wie alle gesunden Kinder. (Das ist vergleichbar mit der Behandlung eines Diabetikers mit Insulin, oder eines kurzsichtigen Kindes mit einer Brille.)

Es ist falsch, dass die Behandlung mit Methylphenidat abhängig macht. Das Medikament wird zwar über Sonderrezepte nach dem Betäubungsmittelgesetz verordnet, man kann die Behandlung aber jederzeit ohne Folgen absetzen. Bei einer Abhängigkeit würde das nicht gehen, im Gegenteil: die Dosis müsste immer weiter gesteigert werden. Bei Methylphenidat wird die wirksame Dosis beibehalten und allenfalls dem höheren Alter oder steigenden Körpergewicht des Kindes angepasst.

Aus der Forschung ist sogar bekannt, dass Jugendliche mit unbehandeltem ADHS ein höheres Abhängigkeitsrisiko von illegalen Drogen haben als andere, weil sie sich selbst eine Art Beruhigung suchen. Behandelte Patienten haben dasselbe Suchtrisiko wie jeder andere Mensch.Wichtig zu wissen ist auch, dass ein notwendige, aber nicht durchgeführte Behandlung natürlich schwerwiegende soziale Folgen (schulisches und soziales Scheitern) für ein Kind haben kann und man deshalb sorgfältig abwägen muss.

Alternativen zu Methylphenidat

Einen ähnlichen Wirkmechanismus wie das alte Methylphenidat besitzt der Wirkstoff Lisdexamfetamin (Elvanse). Es wirkt aber meist intensiver und deutlich länger. Eine kürzer wirksame Variante dieses Stoffes ist Dexamfetamin (Attentin).

Seit einigen Jahren gibt es weitere Substanzen in der ADHS-Therapie. Der erste Wirkstoff heisst Atomoxetin (Strattera) und beeinflusst im Stoffwechsel des Gehirns den Botenstoff Noradrenalin. Die Kapseln werden einmal täglich eingenommen und erst jeweils nach 1-2 Wochen auf die nächsthöhere Dosis gesteigert. Die Wirkung tritt langsam ein und ist oft erst nach 6 Wochen zu beobachten. Eingesetzt wird Atomoxetin bei Patienten, bei denen außer der Schulsituation auch die Morgen- und Abendsituation zu Hause und das Sozialverhalten deutlich beeinträchtigt sind, oder bei Kindern, die auf Methlyphenidat mit zu starken Nebenwirkungen, ausbleibender Wirkung oder starken Rebound-Phänomenen (massivere Verhaltensauffälligkeiten nach Wirkende am Nachmittag) reagiert haben.

Ähnlich, aber direkter wirkt Guanfacin (Intuniv): es beeinflusst direkt die Noradrenalin-Ausschüttung und wirkt schneller als Atomoxetin. Eine erste Wirkung ist oft schon nach 1-2 Wochen zu bemerken. Auch hier genügt eine Einnahme pro Tag (egal, zu welcher Uhrzeit), und die Wirkung hält 24 Stunden dauerhaft an.
Beide Substanzen, Atomoxetin und Guanfacin, wirken deutlich weniger gut auf die Konzentration als Methylphenidat, dafür aber meist deutlich besser in der Morgen- und Abendsituation, wo sie das Verhalten gut regulieren können.

 

 

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